wehlers humanismus

Erneut hat es das Forum offene Wissenschaft in Bielefeld geschafft, Hans-Ulrich Wehler für einen Vortrag mit dem Titel „Die Idee der Humanität in Geschichte und Gegenwart“ zu gewinnen.
Das letzte Mal, dass ich Wehler im FoW gesehen habe, wetterte er eindrucksvoll und bestimmt, manche werteten das als polemisierend, gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Damals erzählte er eine Anekdote über den seinerzeitigen Außenminister Joschka Fischer. Den habe er in Berlin auf einer Party getroffen und nachdem man den einen oder anderen intus hatte, soll Fischer einen Vergleich zu Genscher gezogen haben: „Halb soviele Amtsjahre, aber doppelt soviel Flugmeilen!“ Dem Publikum gefiel natürlich diese Anekdote, man traute sie Fischer ja auch ohne weiteres zu. In diesem Kontext wirkte sie allerdings befremdlich, aber Wehler konnte sie sich leisten.
Heute Abend nun sprach Wehler über Humanismus. Man durfte gespannt sein, schliesslich wagte Wehler sich damit ausserhalb seines Forschungsbereichs. Dies räumte Wehler vor einer hörsaalfüllenden Fangemeinde auch ein, warb aber dafür den Humanismus als europäisches Kulturgut, das auf dem Christentum aufgebaut worden sei, weiter zu befördern. Das Christentum habe gezeigt, dass es ein derartiges Kulturgut verbreiten könne. Daher habe er auch nichts dagegen, es in eine europäische Verfassung Gott einzubinden, da der christliche Glaube eben auch europäisches Kulturgut sei, auch wenn er selbst die jüdische Religion der christlichen in inhaltlicher Sicht bevorzugen würde.
Bezogen auf letzteres sagte er, es sei leichter an einen einzigen gesetzgebenden Gott zu glauben als an ein gemischtes Team aus Gott, Engeln und sonstigen Wesen. Wehler betonte, in einem derartigen Rahmen sei es immer ratsam, den Inhalt mit einer politischen Aussage zu verknüpfen, das erklärte sein Werben für die Anerkennung des Humanismus als europäischem Exportschlager. Andere Religionen oder Amerika mit seinem Way-of-life hätten eine derartige Wertetradition nicht vorzuweisen.
Und an diesem Punkt sprach Wehler, der jahrelang in den Vereinigten Staaten lehrte, doch noch etwas für mich interessantes an. Ihn habe dieser starre, unerschütterliche Glaube an den american way of life immer irritiert. Die Geschichte des Tellerwäschers, der zum Millionär wird, würde immer wieder durch die eine oder andere derartige Geschichte bestätigt, während sich niemand über die oftmals fehlende Krankenversicherung wunderte. Der Glaube, der Einzelne müsse nur hart genug arbeiten, dann bekomme er schon seinen verdienten Lohn, sei wesentlich grundlegender verankert als die Idee von einer umfassenden Sozialversorgung.
Jetzt leuchtet mir schon eher ein, weswegen aktuelle amerikanische Filme ums Verrecken nicht auf den Einen, der alle rettet, verzichten kann, aber Rawls‘ Theorie muss ich darauf hin nochmal testen.

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